Finanzhysterien bezeichnen die immer wiederkehrenden „Anfälle von Kaufrausch“, bei denen der Finanzmarkt einem wahnwitzigen Spekulationsfieber verfällt, nur um irgendwann zusammenzubrechen. Die größeren Crashs  treten im Schnitt alle 10 Jahre auf, die ganz spektakulären Crashs alle 75 Jahre. Die Auswirkungen auf den Wohlstand der Menschen sind katastrophal. Trotz aller Finanzmarktregulierungen seitens der Finanzbehörden und Regierungen zeigen sich diese Phasen extrem hartnäckig. Sie scheinen die Märkte dann zu treffen, wenn alle Beteiligten glauben, sie seien dagegen immun. Außerdem sind sie unter dem Blickwinkel eines „rationalen Marktes“, der vom rationalen „Homo oeconomicus“ gelenkt wird, ein rätselhafter und unerklärlicher Vorgang. Viele institutionelle Anleger, aber auch Privatanleger stehen diesem Phänomen wehrlos gegenüber und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.
Alle spekulativen Aufblähungen, ob es sich bei dem Objekt nun um Tulpen, Immobilien, Aktien, Internet-High-Tech-Werten oder sonstiges handelt, sind unweigerlich eine Währungskrankheit. Der gemeinsame Nenner ist bei allen Zyklen immer das Geld. Der Preis, der in Geld ausgedrückt wird, steigt zunächst ins unermessliche und bricht dann völlig zusammen.

Von den Kreuzzügen bis zu den Mississippi-Aktien gab es bisher in jedem Zeitalter „Massenhysterien“. Um diese Spekulationsblasen zu verstehen, ist es wichtig, deren Ablauf zu erkennen:

  1. Phase: Auf einem bestimmten Finanzmarkt steigen langsam, aber sicher die Preise. Branchenkenner bemerken das und kaufen. Nach einer Weile sprechen Marktexperten über ein großes Gewinnpotential. Dieser Prozess kann mehrere Jahre dauern, bevor die nächste Stufe erreicht wird.
  2. Phase: Der Finanzmarkt heizt sich auf. Zuerst beteiligen sich in wachsender Zahl Experten, dann Laien und schließlich Ausländer. Für die meisten Branchenkenner ist das „ein sicheres Ding“. Die Preise erreichen „verrückte“ Höhen. Jeder Unbeteiligte fühlt sich übergangen und stürzt sich ebenfalls ins Getümmel. Gerade noch rechtzeitig.
  3. Phase: Ohne Übergang passiert „etwas“, und die Stimmung schlägt um: ein echtes oder falsches Gerücht, eine neue Information. Diese Nachricht kann, muss aber nicht mit dem beteiligten Produkt zusammenhängen, doch zu dem Zeitpunkt gilt sie als relevant. Die „Seifenblase“, die über Monate oder Jahre gewachsen ist, zerplatzt in einer Verkaufshysterie von wenigen Stunden oder Tagen. Die Preise stürzen in den Keller.
  4. Phase: Bankrotte, Konkurse, finanzieller Ruin und Verzweiflung für viele Menschen. Die Preise pendeln sich im Laufe der nächsten Jahre wie beim Normalniveau ein. Staatliche Stellen beklagen die Exzesse und versuchen herauszufinden, was schief gelaufen ist. Eine neue Erklärung wird gefunden, und Regulierungen werden eingeführt, die sicherstellen sollen, dass es nie wieder soweit kommt. Dann beginnt der Zyklus hartnäckig aufs Neue – in einem anderen Finanzmarkt auf etwas andere Weise.

Staatliche Behörden haben allen Grund, das Zerplatzen der finanziellen Seifenblasen zu fürchten. Sie werden zuerst beschuldigt, wie es soweit kommen konnte. Daher hat es schon Tradition, dass die Regierung sofort nach jedem Crash eine „Expertenkommission“ einberuft, die die Angelegenheit gründlich untersucht und den Grund für das Unheil finden soll. Die Experten konzentrieren sich bei einem Finanzmarkt meist auf einen Fehler, der angeblich den Boom auslöste und den Zusammenbruch einleitete. Die häufigsten Kandidaten sind unweigerlich Neuheiten, deren Auftreten in Zusammenhang mit dem Boom verdächtig wirkt. Nach dem Zusammenbruch der Tulpenpreise gingen die Behörden in den Niederlanden gegen die kurz zuvor entstandenen Terminkontraktmärkte vor und machten Sie für die „Tulpomanie“ verantwortlich. Aus heutiger Sicht mag es dumm erscheinen, doch der Terminkontraktmarkt war neu, und sein Auftreten traf mit dem spektakulären Anstieg der Tulpenpreise zusammen. Beim Börsenkrach 1929 war es für den amerikanischen Kongress ein leichtes, die Übeltäter unter den Investment-Trusts zu finden. Die entwickelten Praktiken des Programmhandels und der Portefeuille-Absicherung wurden für den Crash 1987 verantwortlich gemacht. Ihre Todsünde scheint ihre Neuheit gewesen zu sein. Unserer Ansicht nach ist der gemeinsame Nenner bei alledem, dass die Schuld bei den Mitteln anstatt bei der Ursache für das Spekulationsfieber gesucht wird.

Es ist sehr aufschlussreich, dass die wichtigsten Bücher über die Psychologie des Geldes unweigerlich das Thema „Spekulationswahn“ behandeln. Erwartungsgemäß sind Wirtschaftsexperten auch seit langem von dem Auf und Ab der Spekulationsphasen fasziniert. Der Grund für dieses Interesse liegt darin, dass die Beständigkeit der Boomphasen und der Zusammenbrüche sich der heiligsten Hypothese widersetzt, auf der die gesamten Wirtschaftswissenschaften aufgebaut sind: Märkte sind rational, sie werden vom völlig rationalen Homo oeconomicus gesteuert. Das Konzept des „Homo oeconomicus“ ist der psychologische Grundpfeiler der Wirtschaftswissenschaften. Definiert wird er als „rational handelndes Individuum“. Das bedeutet, dass das Individuum eine bestimmte Vorstellung davon hat, wie die Ökonomie funktioniert und dass es keine systematischen Fehler bei der Verarbeitung von Informationen begeht.

Die der Definition zugrundeliegenden Prinzipien wurden seit der Zeit Adam Smith‘ im Jahr 1785 nicht aktualisiert, also ein Jahrhundert bevor Sigmund Freud das Unbewusste entdeckte. Diese Grundsätze spiegeln die absolute Vormachtstellung des Verstandes wider.

Die psychologischen Annahmen hinter dem sagenhaften Homo oeconomicus bergen erhebliche Probleme. Erstens geht die Definition davon aus, dass alle Menschen gleich sind. Zweitens berücksichtigt sie nicht, dass das Verhalten einer Gruppe vom Verhalten einer Einzelperson abweicht. Anders ausgedrückt, sie lässt keinen Raum für eine Gruppe oder Massenpsychologie, die sich qualitativ von der Persönlichkeitspsychologie unterscheidet. Dazu gehört der Trugschluss, dass sich das Ganze nicht von der Summe der Teile unterscheidet. Auf dem Gebiet der Boom- und Bust-Phasen ist ein solcher Trugschluss gefährlich.

Gustave Le Bon, einer der Pioniere der Massenpsychologie, betonte:

„Einzelne Gruppenmitglieder werden vom kollektiven Denken überstimmt, egal wie ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäftigung oder Intelligenz sind. Diese Art des Fühlens, Denkens und Verhaltens veranlasst den einzelnen dazu, sich deutlich anders zu verhalten, als wenn er allein wäre.“

Diese Definition deckt sich mit C.G. Jungs Erkenntnissen über das kollektive Unterbewusstsein.

Geht man davon aus, dass die immer wiederkehrenden Booms und Crashs die „Rationalität des Marktes“ widerlegen, überrascht es nicht, dass einige Wirtschaftswissenschaftler die Existenz von Finanzhysterien zu widerlegen versuchen. Die Ansicht, dass ein Finanzarkt stets und ständig von intelligenten, gut informierten und finanzstarken Spekulanten, die stets rational denken und kalkulieren, dominiert werden oder nur aus diesen bestehen, trifft nicht zu. Natürlich gibt  es auch mutige Wirtschaftswissenschaftler, die es wagten, den merkwürdigen Fall von Finanzhysterien zu erklären.

Die Informationsflusstheorie

Hier werden die Marktteilnehmer in zwei Gruppen unterteilt: „Smart Money“ und „kleine Investoren“, in der Tiermetaphorik der Wall Street auch als „Wölfe“ und „Lämmer“ bezeichnet. Die Informationsflusstheorie weist darauf hin, dass zwischen dem „Smart Money“ und den „Kleinanlegern“ ein Informationsungleichgewicht besteht. Die Profis sind natürlich zuerst da. Dann peitschen die Medien die Begeisterung der kleinen Spekulanten auf. Der Finanzmarkt boomt, und „Smart Money“ überlässt seine Positionen großzügig den kleinen Anlegern. Wenn der Finanzmarkt schließlich zusammenbricht, haben sich die meisten Profis bereits zurückgezogen, und die „Lämmer“ werden entsprechend geschröpft. Die aktuellste Version dieser Theorie nennt sich „Behavioral Finance“ – „Psychologie der Finanzmärkte“. Sie bietet den theoretischen Rahmen für die Anwendung der kollektiven Psychologie auf die Finanzwelt.

Die Wall-Street-Fauna

Wohl die meisten Menschen haben schon von den „Bullen“ und „Bären“ der Wall Street gehört. Damit sind die Marktoptimisten und die –pessimisten gemeint. Doch nur wenige kennen den archetypischen Ursprung dieser bunten Fauna. C.G. Jung, ein Pionier auf dem Gebiet der Erforschung des Unbewussten schreibt zu den Archetypen:: „Archetypen sind für die Seele, was Instinkte für den Körper sind.“

  • Bulle: männliches Sonnensymbol im Mithras-Kult und anderen indogermanischen Traditionen. Das Wort stammt von dem indogermanischen Verb bhel, was „scheinen, blitzen, brennen“ bedeutet. Im Altertum verband man genau diese Eigenschaften mit dem Gott Baal. Im Altenglischen stand der Begriff bellan für „brüllen, aufblasen, ein sinnloses Gerücht verbreiten“. Von der letzten Bezeichnung stammt die derzeitige Bedeutung des englischen Wortes bullshit.
  • Bär: weibliches Symbol des Nordpols, weswegen die Sternbilder Großer und Kleiner Wagen auch Großer und Kleiner Bär genannt werden. Von dem indogermanischen Verb bher, was „tragen, gebären“ bedeutet. Im Altenglischen bezeichnet man mit borian Tätigkeiten wie „bohren, durchstechen“. Der „Bear Skin Jobber“ im Wallstreet-Jargon ist jemand, der kurzfristige Wertpapiere, sogenannte Kurzläufer, verkauft, ohne welche zu haben.
  • Lämmer: „unschuldige“, nichtprofessionelle Kleinanleger. „Den Lämmern das Fell über die Ohren ziehen“.
  • Wölfe: die großen, professionellen Anleger, die die kleinen Anleger schröpfen, ihnen sozusagen „das Fell über die Ohren ziehen“.

Stellt man sich diese Tiere in Aktion vor, hat man den vollen Boom-Bust-Zyklus: Ein glänzender Bulle, der auf Gerüchten basiert, zieht die Lämmer auf den Markt. Dann kommt der Bär, der das Endergebnis gebärt und die aufgeblähte Seifenblase platzen lässt. Nur die schnellsten Wölfe entkommen ohne Schaden.

Alle Theorien zur Erklärung des Boom-Bust-Phänomens erklären wie die Seifenblase entsteht und wie sie zerplatzt. Doch damit bleibt eine Frage unbeantwortet: Warum passiert das? Weshalb werden die Lämmer nie klüger? Aus welchem Grund sind Märkte auch nach jahrhundertelanger Spezialisierung immer noch anfällig für solche gelegentlichen Ausbrüche einer Massenpanik?

„Ohne eine solide Kenntnis des Denkens der Massen (das oft den Anschein eines Massenwahns erweckt) lassen unsere ökonomischen Theorien noch einiges zu wünschen übrig. Völkerwanderung, Kreuzzüge, mittelalterliche Büßerbewegung, Hexenverbrennungen, all diese Phänomene – bis hin zum Florida-Boom und dem Börsenkrach 1929 –  waren Kollektivhandlungen, hervorgerufen durch Impulse, die noch keine Wissenschaft untersucht hat… Derartige Impulse sind so mächtig, dass sie unerwartet jeden  statischen Zustand oder sogenannten normalen Trend beeinflussen können. Aus diesem Grund müssen   ihnen aufmerksame Wirtschaftsexperten in ihren Überlegungen einen Platz zubilligen. Ich hatte stets den Eindruck, dass der Wahn, der die Menschheit regelmäßig heimsucht, einen tief verwurzelten Zug in der menschlichen Natur wiederspiegelt – ein Zug ähnlich der Macht, die die Bewegung der Zugvögel beeinflusst oder die Lemminge ins Meer treibt.“  Bernard M. Baruch, Börsenspekulant

Wir gehen davon aus, dass die in einer Gesellschaft verwendete Währungsform ein Spiegelbild des kollektiven Unbewussten dieser Gesellschaft ist. Pionier auf dem Feld der archetypischen Psychologie war C.G. Jung. Zu den bekannteren Anwendung der Jung‘schen kollektiven Psychologie gehören die Vorhersage des Faschismus in Europa, den Jung bereits in den 20er Jahren kommen sah, oder die prophetische Beschreibung der Dynamik, die dem kalten Krieg zugrunde lag.

In unserem aktuellen Seminar „Die Psychologie der Finanzmärkte“ bieten wir dem interessierten Anleger einen tiefen Einblick in die Wirkungsweise des individuellen und kollektiven Bewusstseins und die daraus resultierenden Konsequenzen auf den Finanzmarkt.

Quelle: Bernhard Lietaer, „Mysterium Geld“