Können wir die Zukunft vorhersehen? Nein, sagt Nassim Nicholas Taleb  Weil wir aber immer wieder glauben, das zu können, werden wir von der Realität überrascht – wie momentan durch die globale Finanzkrise.

Vor der Entdeckung Australiens glaubten die Europäer, dass alle Schwäne weiß sind. Andere Farben? Undenkbar. Dann aber wurde der fünfte Konti- nent entdeckt. Und dort gab es schwarze Schwäne.

Das heißt: Was wir zu wissen glauben, entspricht nicht immer der Realität. Wir sind uns dessen nur nicht bewusst – und das ist gefährlich. Extrem unwahrscheinliche Ereignisse können enorme Auswirkungen haben – etwa in der Welt der globalen Finanzmärkte.

Die Gefahr, schwarze Schwäne zu ignorieren, nimmt ironischerweise zu, je mehr Wissen wir uns aneignen. Denn: Je mehr wir wissen, desto eher entwickeln wir ein trügerisches Gefühl der Sicherheit. Die Auswirkungen der Illusion, alles zu wissen, führt uns die Krise der globalen Finanzmärkte gerade deutlich vor Augen. Viele Finanzinstitutionen gründeten ihre Geschäftsmodelle auf der Annahme, Risiko anhand von Daten aus der Vergangenheit einschätzen zu können. Sie haben Produkte kreiert, die Investoren vorgaukelten, die Risiken seien überschaubar.

Es handelt sich um ein Kernproblem der menschlichen Wahrnehmung: Wir neigen dazu, die Welt um uns herum in geordneten und kategorisierbaren Strukturen wahrzunehmen. Die Folge: Wir unterschätzen die Wahrscheinlichkeit unvorhersehbarer Ereignisse und neigen dazu, nach Fakten zu suchen, die unsere Vorstellungen und Erfahrungen bestätigen. Dabei verwechseln wir die Aussage, man könne die Existenz schwarzer Schwäne nicht beweisen, mit der Behauptung, es sei erwiesen, dass sie nicht existieren.

Wir fassen einzelne Fakten als Teil einer zusammenhängenden Geschichte auf, stellen sie in einen Kausalzusammenhang – und weben dadurch eine bestimmte Bedeutung in sie hinein, die sie gar nicht haben. Wir vereinfachen so komplexe Sachverhalte – und unterschätzen die Rolle des Zufalls. Das, was wir bei der Vereinfachung weglassen, ist der schwarze Schwan.

Paradoxerweise kommt es dabei zugleich dazu, dass wir die Bedeutung für bestimmte schwarze Schwäne überbewerten. Solcher Ereignisse nämlich, von denen wir gehört haben und die im aktuellen Diskurs präsent sind. So wird die Wahrscheinlichkeit eines Terroranschlags oder eines Lotteriegewinns regelmäßig überschätzt.

Auch unsere Beurteilung von Erfolg und Misserfolg ist stark durch unsere beschränkte Wahrnehmung des Zufalls bestimmt. Erfolgreichen Aufsteigern bescheinigen wir außerordentliches Talent, Mut, Risikobereitschaft und so weiter. Was wir dabei nicht beachten: Große Erfolge entspringen genauso wie tiefe Niederlagen unserer, die jedoch viel mehr Verlierer als Gewinner hervorbringt. Das Heer der relativ Erfolglosen lassen wir bei der Betrachtung der Erfolgreichen völlig außer Acht. Zwischen Erfolg und Misserfolg entscheidet oft einfach schieres Glück!

DOCH WAS IST DIE KONSEQUENZ daraus? Es geht nicht darum, überhaupt keine Risiken einzugehen. Ich warne nur davor, leichtsinnig Risiken zu suchen, deren Ausmaß man nicht wirklich kennt. Es hilft nichts: Wir müssen erkennen, dass wir in vielen Situationen keine Vorhersagen treffen können.

Aber was ist mit Experten? Helfen sie uns nicht dabei, verlässlichere Zukunftsprognosen abzugeben? Nun, leider nicht. Im Gegenteil: Unsere Probleme werden sogar noch größer, wenn wir uns auf die Prognosen sogenannter Experten verlassen. Es ist so: Bei Themen, die sich verändern und daher Wissen erfordern, gibt es für gewöhnlich keine wirklichen Experten. Auf diesen Gebieten herrscht ein Expertenproblem. Vermeintliche Experten stützen sich zu sehr auf ihr Fachwissen und neigen deshalb dazu, zu „tunneln“, also Faktoren, die sich außerhalb ihres engen Fachwissens befinden, auszuklammern.

Wissenschaftliche Untersuchungen der Arbeit von Wertpapieranalysten haben beispielsweise ergeben, dass diese bei ihren Vorhersagen unerwartet schlecht abschneiden. Doch damit nicht genug. Gemeinhin erkennen diese vermeintlichen Experten nicht einmal, wenn sie falschliegen. Stattdessen reden sie sich damit heraus, sie hätten „beinahe“ richtiggelegen, oder rechtfertigen sich mit dem Hinweis auf einen „Ausreißer“. Je weiter solche Prognosen in die Zukunft reichen, desto größer sind auch die Fehler dieser Prognostiker. Sie erkennen nicht, dass sie eine Fehlerrate berücksichtigen müssen. Vorhersagen ohne Berücksichtigung einer Fehlerrate beinhalten drei Trugschlüsse: Erstens werden Prognosen zu ernst genommen, ohne dass wir ihre Genauigkeit beachten. Diese ist aber meist viel wichtiger als die Prognose an sich. Zweitens ignorieren wir die Tatsache, dass sich Vorhersagen verschlechtern, je weiter sie in die Zukunft reichen. Und drittens verstehen wir den Zufallscharakter der Variablen bei Vorhersagen nicht. Oft können diese Variablen viel optimistischere oder pessimistischere Szenarien enthalten, als man erwartet. Wenn wir einer Vorhersage zustimmen, müssen wir uns deshalb bewusst sein, dass die Möglichkeit einer signifikanten Abweichung besteht. Unsere Vorhersagefähigkeit ist nicht nur durch diese Trugschlüsse beschränkt, sondern auch durch die Natur der menschlichen Aktivitäten selbst. Die größten Veränderungen und Entdeckungen in der Weltgeschichte ergeben sich nicht aus gezieltem Suchen, sondern geschehen unbeabsichtigt. So entdeckte Alexander Fleming das Penizillin, weil der Penizillinschimmel eine seiner Petrischalen verunreinigt hatte. Oder denken Sie an Kolumbus, der einen Seeweg nach Indien suchte und Amerika fand. Der Philosoph und Wirtschaftstheoretiker Karl Popper argumentierte, um geschichtliche Ereignisse vorhersagen zu können, müsse man künftige technische Innovationen vorhersagen. Das aber, so Popper, gehe nicht. Vorhersagen erfordern Wissen über Technologien, die in der Zukunft entdeckt werden. Ebendieses Wissen würde es uns aber fast automatisch erlauben, sofort mit der Entwicklung dieser Technologie zu beginnen. Ergo wissen wir nicht, was wir wissen werden. Was kann man nun tun, wenn man keine Vorhersagen machen kann? Die Antwort ist klar: Seien Sie auf alle Eventualitäten vorbereitet!

ERSTENS: Unterscheiden Sie zwischen positiven und negativen schwarzen Schwänen. Lernen Sie die Situationen, in denen das Fehlen von Vorhersagbarkeit extrem vorteilhaft sein kann, von jenen zu unterscheiden, wo es Schaden verursacht.

ZWEITENS: Suchen Sie nicht immer nach dem Präzisen und dem lokal Begrenzten, also leichter Verstehbaren. Bereiten Sie sich auf den Zufall vor. Sie sollten auch nicht versuchen, schwarze Schwäne präzise vorherzusagen, denn das würde Sie leichter durch diejenigen Schwäne verwundbar machen, die Sie nicht vorhergesagt haben.

DRITTENS: Ergreifen Sie jede Gelegenheit. Setzen Sie sich positiven schwarzen Schwänen aus, denn echte Gelegenheiten sind seltener, als man denkt. Wenn man Ihnen ein attraktives Angebot macht, zögern Sie nicht, sagen Sie alle anderen Termine ab.

VIERTENS: Hüten Sie sich vor allzu präzisen Plänen staatlicher Institutionen. Beamte, beispielsweise Regulierer im Bankgeschäft, neigen zu einem gravierenden Expertenproblem. Auch private Unternehmen schneiden bei Vorhersagen nicht besser ab.

FÜNFTENS: Ignorieren Sie Prognostiker, Börsenanalysten, Ökonomen und Soziologen, aber regen Sie sich nicht über sie auf. Es wird weiterhin dumme Vorhersagen geben. Den institutionalisierten Betrug kann man nicht ausmerzen. Die Gründe dafür, dass wir nicht herausfinden können, was in der Welt wirklich vor sich geht, lassen sich unschwer eingrenzen: unsere Arroganz zu glauben, mehr zu wissen, als wir tatsächlich tun; das Denken in Kategorien und die Täuschung durch Reduktionen, sowie fehlerhafte Instrumente für Schlussfolgerungen, die keine schwarzen Schwäne berücksichtigen. Letztendlich werden wir von der Geschichte getrieben, auch wenn wir glauben, wir selbst seien die Treiber.

„Die größten Veränderungen der Weltgeschichte geschehen unbeabsichtigt.“