Kapitalmärkte sind extrem riskant – riskanter als sich die meisten Menschen vorstellen können
Turbulenzen sind gefährlich. Was durch sie entsteht, kann heftig und plötzlich umschlagen. Man kann sie schwer vorhersagen und sich noch schwerer vor ihnen schützen. Am schwierigsten ist es, sie technisch zu beherrschen und von ihnen zu profitieren. Im heutigen Finanzsystem ignoriert man das. Dort lebt man nach dem Dogma, das Finanzsystem sei eine lineare, kontinuierliche und rationale Maschine.
Schauen wir auf das sogenannte Rätsel von der gerechten Risikoprämie. Woran liegt es, dass Aktien den Anleger, gemessen an der Durchschnittsrendite, in der Regel so reich belohnen? Den Daten zufolge lieferte Aktien im 20. Jahrhundert im Vergleich zu den als sicherer geltenden Geldanlagen wie etwa den US-Schatzanweisungen eine erhebliche „Gewinnprämie“. Inflationsbereinigte Schätzungen dieser Prämie schwanken zwischen 4,1 und 8,4 Prozent. Die herkömmliche Theorie bezeichnet das als unmöglich. Nur zwei Dinge könnten, die Aktienkurse so aufblähen. Entweder ist der Markt so riskant, dass die Leute ansonsten nicht in Aktien investieren würden, oder sie befürchten, dass er so riskant ist, weshalb sie ihr Geld sonst nicht hier anlegen würden. Nun messen die meisten Marktteilnehmer das Risiko des Marktes üblicherweise anhand seiner Volatilität, der sogenannten Standardabweichung innerhalb des Konzeptes der Gauß´schen Normalverteilung. Dann fangen sie an zu rechnen und landen weit unten. Den herkömmlichen Formeln zufolge sollte die Risikoprämie sehr gering sein. Sicherlich ein Fehler in den Daten.
Das grundlegende Problem bei dieser Vorgehensweise ist, dass sie annehmen, der durchschnittliche Profit des Aktienmarktes würde einem realen Menschen etwas bedeuten. Doch in Wahrheit spielen die extremen Gewinne bzw. Verluste die größte Rolle. Schon ein vom Durchschnitt abweichendes Jahr mit Verlusten von mehr als einem Drittel des Kapitals, was beispielsweise 2002 bei vielen Aktien der Fall war, würde selbst den kühnsten Anleger aus gutem Grund für längere Zeit vergraulen. Außerdem geht das Modell fälschlicherweise davon aus, dass die Glockenkurve ein realistischer Maßstab für das Risiko ist. Die realen Kurse springen sehr viel heftiger auf und ab, als die Gaußsche Normalverteilung unterstellt. In diesem Licht stellt die gerechte Prämie kein Rätsel dar. Echte Anleger wissen es besser. Sie erkennen instinktiv, dass der Markt sehr, sehr riskant ist. Riskanter als die Standardmodelle angeben. Und so fordern sie als Ausgleich für das eingegangene Risiko natürlich einen höheren Ertrag, den sie häufig auch bekommen. Das gleiche Argument – die Leute begreifen instinktiv, dass der Markt riskant ist – erklärt auch, warum so viel vom Vermögen der Welt in sicherem Cash angelegt bleibt, statt in riskante Anlageformen.
Das Mantra der Investmentgemeinde heißt Anlagestruktur: Die Entscheidung darüber, wie man sein Kapital in konservativen und riskanten Anlageklassen aufteilt. Diese ist weit wichtiger als die speziellen Anlageprodukte, die man auswählt. Anders als ein Investmentprofi kümmern die meisten Anleger sich nicht um Durchschnittsrenditen. Ihnen erscheinen die seltenen, aus dem Durchschnitt fallenden Katastrophen an den weltweiten Kapitalmärkte weit bedrohlicher. Natürlich liegen gesunder Menschenverstand und Volksweisheiten oft falsch, sollten aber nie ausser acht gelassen werden.
Letztlich ist es der finanzielle Ruin, den man befürchtet. Er tritt ein, wenn der Meßwert für Reichtum, der Wert einer Aktienportfolios, der Rückkaufswert einer Lebensversicherung oder die Kapitalreserve einer Bank, unter eine bestimmte Schwelle fällt. Nach dem Standardmodell des Finanzsektors liegt die Wahrscheinlichkeit für den Ruin bei eins zu zehn Milliarden Milliarden. Bei solchen Risiken wird man eher von einem auf dem eigenen Haus niedergehenden Meteoriten pulverisiert, als dass man auf dem Finanzmarkt pleite gehen könnte. Wenn die Kurse dagegen heftig schwanken, dann schießt die Wahrscheinlichkeit für einen Bankrott steil hoch: Sie liegt in der Größenordnung von eins zu zehn oder eins zu dreißig.
Was ist der richtige Zeitpunkt?
Auf dem Kapitalmarkt spielt der „richtige Zeitpunkt“ eine bedeutende Rolle. Große Gewinne und Verluste konzentrieren sich innerhalb schmaler Zeiträume. Auf einem Finanzmarkt kommt die Volatilität konzentriert vor. Nachrichten, wie Gewinnmitteilungen oder Inflationsberichte, tragen dazu bei, die Kurse anzutreiben. Wirtschaftswissenschaftler modellieren sie oft als lange Reihen von Zufallsereignissen, die sich über die Zeit verteilen. Sie können zwar von unterschiedlicher Bedeutung sein, ihre Verteilung folgt der Gauß´schen Glockenkurve. Die Anschläge vom 11. September 2001 war eines dieser einschneidenden Ereignisse der letzten Jahre und hatte enorme Auswirkungen auf die Kapitalmärkte. Er erzwang die Schließung der New Yorker Börse für 5 Tage und als der Handel wieder aufgenommen wurde, erzeigte er einen Absturz von 7,5% an einem Tag. Große Nachrichten lösen große Marktaktivitäten aus. Und diese Aktivitäten konzentrieren sich auf kurze Zeitabschnitte.
Was soll der Anleger in so einem Fall tun?
Finanzberater und Anlageprofis raten ihren Kunden oft, zu kaufen und zu halten. Konzentrieren sie sich auf die durchschnittlichen Zuwächse der Aktienkurse sagen sie. Versuchen sie nicht, den richtigen Moment abzupassen. Doch das ist Wunschdenken. Nicht der durchschnittliche Wert zählt, sondern der spezielle. Die erfolgreichsten Investoren sind jene, die den richtigen Zeitpunkt abgepasst haben. Nun spielen aber nur wenige der Investoren in dieser Liga, aber auch diese Menschen können jene Konzentration zur Kenntnis nehmen.
Oft springen die Kurse, anstatt zu gleiten.
Menschen gehen sehr häufig davon aus, dass Kontinuität herrscht. Die Infinitesimalrechnung als größte Neuerung in der Mathematik des 17. Jahrhunderts war erfunden worden, um kontinuierliche Änderungen zu untersuchen. Ihr Mitbegründer Gottfried Leibnitz war zutiefst von dem überzeugt, was er als „Prinzip der Kontinuität“ bezeichnete. Ökonomen geht es oft genauso. Kontinuität ist eine grundlegende Annahme des herkömmlichen Finanzwesens. Die Mathematik von Bachelier, Markowitz, Sharpe und Black-Scholes unterstellt jeweils einen kontinuierlichen Übergang von einem Kurs zu nächsten. Ohne diese Annahme funktionieren ihre Formeln einfach nicht. Leider ist die Annahme falsch. Deshalb stimmt auch die heutige Mathematik in diesen Formeln nicht. Die Finanzkurse springen, lassen Zwischenwerte aus und hüpfen auf und ab. Auf einem Finanzmarkt kann eine Nahcricht, die einen Anleger antreibt bedeutsam oder unbedeutsam sein. Seine Kaufkraft kann bedeutungslos oder marktbewegend sein. Seine Entscheidung mag auf einem plötzlichen Stimmungsumschwung beruhen, von Hausse zu Baisse und wieder zurück. Heraus kommt eine wildere Verteilung der Kursveränderungen: nicht einfach nur Preisbewegungen, sondern Kurssprünge. Diese sind in unserem Informationszeitalter besonders deutlich zu bemerken.
In der heutigen Zeit muss die Anlageberatung auf völlig neue Fundamente gestellt werden. Die alten Überzeugungen dürfen abgelegt werden. Die Kapitalmärkte verlaufen nicht kontinuierlich. Ein volles Verständnis der Kapitalmärkte setzt die Einsicht voraus, dass der Mittelwert nicht golden ist.
Würden Sie ein Fluss zu Fuß durchschreiten, der eine durchschnittliche Tiefe von 1,20 Meter hat?
Den Markt kann man nicht schlagen, sagt eine alte Börsenweisheit. Stimmt. Aber man kann seinen schlimmen Schlägen ausweichen. Mit der Hantel-Strategie sind sie den Schwarzen Schwänen in positiver Form ausgesetzt.
Quelle: „Fraktale und Finanzen“ Benoit B. Mandelbrot (August 2009)