Mehr als ein Jahrhundert lang haben Banker und Wirtschaftswissenschaftler sich darum bemüht, dass Risiko der Kapitalmärkte zu analysieren, es zu erklären und letztlich davon zu profitieren. Die herkömmlichen Standardmodelle zur Vorhersage von Ereignissen haben dennoch kläglich versagt. Tatsächlich hätte es Finanzkrisen jüngerer Ausprägung oder diverse Börsencrashs einfach nicht geben dürfen. Nach den herkömmlichen Portfoliotheorien wäre die Chance für den Absturz vom 28. August 1998 auf eins zu 20 Millionen geschätzt worden. Selbst wenn man 100.000 Jahre lang täglich an der Börse handelt, sollte man ein solches Ereignis kein einziges Mal erleben. An den Finanzmärkten geschieht das scheinbar Unwahrscheinliche ständig. Die Risiken für finanziellen Ruin werden grob unterschätzt. Aus meiner Sicht kommt nicht darauf an, die durchschnittlichen Schwankungen des Marktes zu glätten, sondern auf die großen, existenzbedrohenden Kapitalmarktcrashs vorbereitet zu sein.
Vom Mythos Markowitz
Die Portfoliotheorie von Markowitz ist heute eine der wichtigsten Grundlagen der Geldanlage. Sie rät, niemals «alle Eier in einen Korb zu legen». Laut ihr sollten Investoren ihre Vermögen auf mehrere, sich möglichst gegenläufig entwickelnde Anlagetitel verteilen und so die Risiken streuen. Diese Herangehensweise soll Anleger vor Verlusten schützen. Diese Grundüberzeugung hat sich leider in der Praxis als falsch erwiesen, da sie nur in „ruhigen“ Börsenphasen zu beobachten war. Kapitalmärkte bewegen sich jedoch sprunghaft. In diesen Extremsituationen erzielen Anleger mit der Streuung von Risiken zwar eine gewisse relative Verlustlinderung, absolut gesehen landeten ihre Depots aber tief in den roten Zahlen.
Die Entwicklung zeigte einmal mehr, dass eines der größten Risiken an den Finanzmärkten in solchen Stress-Szenarien liegt, mit denen niemand gerechnet hätte. Es ist aus meiner Sicht für das Vermögen der meisten Anleger fatal, sich mit Anlagestrategien zu beschäftigen, die gar keine oder sehr wenig Volatilität (Schwankungen) produzieren, aber das Risiko eines großen Verlusts mit sich bringen. Kleinere Verluste können relativ schnell ausgeglichen werde. Größere sind existenzbedrohend und führen in aller Regelmäßigkeit in den Ruin.
Sind alle Schwäne weiß?
Bevor die Engländer Australien entdeckten, war man der festen Überzeugung, dass alle Schwäne weiß sind. Dann bekam man den ersten schwarzen Schwan zu Gesicht. Seitdem sind Schwarze Schwäne eine treffende Metapher für Ereignisse, die unerhört erscheinen. Sie besitzen drei Merkmale: Schwarze Schwäne sind Ausreißer, d. h. so vollkommen außerhalb unseres Erwartungshorizonts, dass wir sie als einmalige Ereignisse klassifizieren. Sie verändern unser Denken und damit unsere Welt. Und: Wir finden im Nachhinein immer doch noch Erklärungen für ihr Auftauchen. Der Erste Weltkrieg, der fundamentalistische Terror, der Computer, das Internet: Alle Ereignisse mit großen Nachwirkungen sind schwarze Schwäne. Das Erstaunliche: Wir tun alles, um sie zu ignorieren, um ihre Existenz zu leugnen – und um sie im Nachhinein als „ganz normal“ zu klassifizieren.
Geschichte ist undurchsichtig. Wir sehen immer nur das Ergebnis, aber nie die Entwicklungen, die dazu führen. Es ist wie im Restaurant: Das Gericht, das vor Ihnen auf dem Teller liegt, verrät nicht, welche Zutaten genau verwendet wurden. Dennoch neigen wir dazu, die Welt in übersichtliche Formen zu zerteilen und so ihre Komplexität zu reduzieren. Dabei fallen wir auf folgende Punkte herein: Wir glauben, zu verstehen, was in der Welt vor sich geht. Komplexes oder Zufälliges blenden wir einfach aus. Dabei erliegen wir der retrospektiven Verzerrung, d. h. wir können die Entwicklungen erst im Nachhinein beurteilen, wie durch einen Rückspiegel betrachtet. Letztendlich bewerten wir Fakten zu hoch und lassen uns von Experten leiten.
Graue Schwäne und Zufälligkeit
Kann man schwarze Schwäne zähmen? Nein. Aber man kann verhindern, von ihnen überrumpelt zu werden. Es sind dann schwarze Schwäne ohne Überraschungseffekt. Wie erkennt man sie? Misstrauen Sie Dogmen und versuchen Sie, außerhalb der gängigen Konzepte zu denken. Die immer wieder gern benutzte Gauß’sche Glockenkurve etwa stellt das Modell einer Wahrscheinlichkeitsverteilung dar. Es konzentriert sich auf Durchschnittswerte und verliert Extreme aus dem Auge. Unwahrscheinliche Ereignisse lassen sich also erahnen – zumindest einige. Im aktuellen Kapitalmarktumfeld erscheint es mir, dass sich viele Marktteilnehmer mit ihren getroffenen Entscheidungen in Sicherheit wiegen. Dieses Denken könnte sich wieder als falsch herausstellen.
Auf den Zufall bauen ist Torheit. Den Zufall benutzen ist Klugheit.