Der amerikanische Journalist James Surowiecki beginnt sein Buch „The Wisdom of Crowds“ mit der Geschichte über den britischen Anthropologen Francis Galton. Der Wissenschaftler kam zu dem Schluss, dass sich Menschen einfach nicht vermessen lassen. Nach seiner Erkenntnis ist die „Dummheit und Sturheit vieler Männer und Frauen so groß, dass man es kaum glauben kann“.1906 besuchte er in der Nähe seiner Heimatstadt einen Bauernmarkt. Dort wurden Wetten darauf angenommen, wie viel Gewicht das Fleisch eines bestimmten Ochsen auf die Waage bringen würde, wenn das Tier geschlachtet sei. Zu den Menschen, die wetteten, gehörten neben den Schlachtern und Bauern auch unbedarfte Menschen, die keine Ahnung von Fleischverarbeitung hatten. Galton beschrieb die Menge als Bevölkerungsquerschnitt, wie er auch bei Wahlen an die Urnen geht. Er beschloss, eine kleine Untersuchung durchzuführen. Nachdem die Wetten abgeschlossen waren, sammelte Galton die 787 Eingaben ein und ermittelte daraus die durchschnittliche Schätzung, also das von der Menge als Ganzes vermutete Gewicht. Das Ergebnis: Die durchschnittliche Schätzung betrug 1197 Pfund, nur ein Pfund weniger als das abschließende Gewicht von 1198 Pfund. Selbst der Gewinnerlag nicht so dicht an der Wahrheit. Im Kollektiv lag offensichtlich eine Wahrnehmungsfähigkeit, an die nicht einmal Experten herankamen.
Jedes Individuum verfügt über ein begrenztes Wissen, doch unsere kollektive Intelligenz ist oft exzellent, vorausgesetzt, sie ist richtig zusammengesetzt.
Surowiecki interpretierte dieses Phänomen: Jedes Individuum verfügt über ein begrenztes Wissen, doch unsere kollektive Intelligenz ist oft exzellent, vorausgesetzt, sie ist richtig zusammengesetzt. Genauso wie bestimmte statistische Kurven zur Glockenform neigen, können wir uns auch vorstellen, dass die Urteilskraft und die Sichtweisen einer ausreichend großen Menge von Menschen gemeinsam der wirklichen Antwort auf eine Frage oder die beste Lösung für eine Aufgabenstellung sehr nahe kommen können.
Ein weiteres Beispiel für die Weisheit der Menge ereignete sich 1986 im Nachspiel der tragischen Explosion der Raumfähre Challenger: Weil der Start im Fernsehen übertragen wurde, konnten alle sofort sehen, was geschehen war, sodass sich die Nachricht von dem Unglück blitzschnell verbreitete. Sobald die Neuigkeit die Börse erreicht hatte, begannen Investoren, Aktien der vier wesentlichen Firmen abzuwerfen, die am Bau der Challenger mitgewirkt hatten: Lockheed, Martin Marietta, Rockwell und Morton Thiokol. Gegen Ende des Tages hatten sich jedoch fast alle Kurse wieder erholt, außer jenem von Morton Thiokol, die zwölf Prozent unter ihrem vorigen Wert blieben. Die Menschen spürten, dass Morton Thiokol etwas mit dem Unfall zu tun hatte, obwohl das zu jenem Zeitpunkt noch niemand wissen konnte. Erst sechs Monate später stellten Ermittler fest, dass die von Morton Thiokol gefertigten Dichtungsringe an den Starterraketen die Ursache des Unglücks waren. Wie um alles in der Welt konnte die Investoren-Öffentlichkeit das schon wenige Stunden nach dem Unglück ahnen? Surowiecki kam zu der Vermutung, dass die Zuverlässigkeit der Weisheit einer Menge von drei Faktoren bestimmt wird: Diversität, Unabhängigkeit und Dezentralisation.
Diversität: Bei Prozessen zur Entscheidungsfindung oder Konfliktlösung treffen die gesammelten Standpunkte einer heterogen Gruppe oft besser zu als die einer homogen Gruppe von Experten oder Politikern. Das liegt daran, dass Menschen, die belesener sind oder über etwas genau Bescheid wissen, häufig auf ähnliche Weise denken, während in einer heterogen Gruppe unterschiedlichere Sichtweisen und damit eine breitere Perspektive vorhanden sind. „Die Leistung einer Gruppe wird besser, wenn ein paar Leute dabei sind, die weniger über ein bestimmtes Thema wissen, aber andere Fähigkeiten einbringen.“ Eine große Gruppe von Individuen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen wird bessere Voraussagen machen und intelligentere Entscheidungen fällen als die erfahrensten Experten und Entscheidungsträger.
Unabhängigkeit: Der zweite Faktor für die Weisheit einer Menge ist Unabhängigkeit. Wenn in Gruppen geredet wird, kommt oft vorschnell eine Einigung zustande – eine Gruppennorm entsteht. Diese Vereinbarungen sind jedoch nicht automatisch richtig, angemessen oder zum Wohl aller. Falls zur Gruppe ein Individuum mit einer höheren Position oder mit mehr Ansehen gehört, neigen die Mitglieder der Gruppe dazu, sich diesem Anführer anzuschließen. Das Beispiel mit dem Gewicht des Ochsen war ein Paradebeispiel für die durch unabhängiges Denken in einer Art Wahlprozess zustande kommende Gruppenweisheit.
Dezentralisation: Aus konventioneller Sicht gelten Besitz, Urheberrechte und die Kontrolle über Lösungen als erstrebenswert. Das gilt gleichermaßen für Unternehmen, die nach mehr Profit streben, und für Individuen, die sich mehr Anerkennung im Beruf oder in der Familie bzw. im sozialen Umfeld wünschen. Unternehmen, aber auch die Politik, stellen deswegen gerne aus ihren eigenen Spezialisten Expertengruppen zusammen, um ein bestimmtes Problem zu lösen, und schließen damit externe Sichtweisen aus. Individuen behalten Wissen für sich, weil sie meinen, irgendwann daraus Nutzen schlagen zu können. Dezentrale Prozess zeigen jedoch, dass kollektiv gewonnene Problemlösungen oft besser für die Gesundheit und das Wohlergehen sowohl des Einzelnen als auch der Gemeinschaft sind.
Diese drei Faktoren finden sich in den höchst effizienten und effektiven Wiki-Internet-Softwares wieder, bei denen die Inhalte der Webseiten gemeinschaftlich von allen erstellt, strukturiert und korrigiert wird. Dies fördert die Wahrnehmungsfähigkeit und Bewusstheit und beschleunigt die Lernkurve für alle.
Diese Art von Open-Source-Weisheit ist der Schlüssel zur Lösung der brennenden Probleme unserer Gesellschaft, die bislang durch Geheimniskrämerei einer profitorientierten Mentalität eher verschärft wurden. Ideen zu sammeln und alle erkannten Stärken und Schwächen allgemein zu veröffentlichen, wäre der ideale Weg des „Global denken-lokal handeln“. Schließlich ist das Leben selbst eine Open-Source.
Die Menge ist oft klüger als ihre klügsten Mitglieder.
In diesem Sinne wünscht die „Schule des Geldes“ ein gutes ZusammenWachsen.
Quelle: Bruce H. Lipton, Steve Bhaerman