Finanzsysteme, Wirtschaftswissenschaften, Geldpolitik – all diese Dinge sind hochkomplex. Wo selbst studierte Experten die Hände heben und passen müssen, vermögen nur sehr wenige Menschen die Zusammenhänge, großen Linien und die scheinbar naturgesetzartig auftretenden Ereignisse zu begreifen. Zu den begnadeten Denkern gehörte dabei ohne Frage Hyman Minsky (1919 bis 1996). Der US-amerikanische Ökonom war unter anderem Entdecker des sogenannten Minsky-Moments, eines dramatischen aber scheinbar mit zuverlässiger Regelmäßigkeit einsetzenden Zeitpunktes zusammenbrechender Märkte. Das Interessante dabei: Die heutigen Finanzjongleure scheinen den Minsky-Moment komplett zu ignorieren. Wie die Lemminge marschieren sie in Richtung Abgrund. Und reißen ganze Volkswirtschaften, aber auch leichtgläubige Kleinanleger mit sich.

Ponzi-Finanzierung

Eine der Hauptthesen Minskys lautet, dass ein Finanzsystem im Laufe des Aufschwungs automatisch instabil wird. Das Auftreten einer Krise sei unabwendbarer Bestandteil heutiger Geldsysteme. Scheinstabilität und Selbstzufriedenheit würden nach und nach zu einem großen Schuldenüberhang und zu vielen Fremdkapitalfinanzierungen führen. Irgendwann käme es dann zu einem Ungleichgewicht und das betroffene Finanzsystem kollabiert. Der Minky-Moment ist da! Die Hypothese einer finanziellen Instabilität leitete Minsky vom falschen Umgang mit der Schuldenaufnahme ab.
Als gefährlichste Form betrachtete er dabei die sogenannte „Ponzi-Finanzierung“. Hier können weder die Verbindlichkeiten getilgt, noch die Zinsen für aufgenommene Kredite aus dem Cashflow des Schuldners bezahlt werden. Stattdessen wird bei der nach Charles Ponzi (Pseudonym, 1882 bis 1949) benannten „Ponzi-Finanzierung“ das vorhandene Anlagegut, wie zum Beispiel Anteilsscheine an Kapitalgesellschaften oder Immobilien zu einem höheren Preis verkauft, als für den Erwerb aufgewendet werden musste. Aus der Differenz sollen dann die Schulden begleichen, die Zinsen bezahlt und zudem noch ein Gewinn erwirtschaftet werden. Laut Minsky drohen aber große Probleme, je mehr die „Ponzi-Finanzierung“ um sich greift. Daher bedeutet diese Finanzierungsmethode – aufmerksame Leser haben es sicher schon bemerkt – nichts anderes als ein Schneeballsystem. Ja im Englischen steht „Ponzi scheme“ für eben diese Betrugsmasche, bei der bekanntlich Verbindlichkeiten und Ansprüche von Gläubigern mit Einlagen von Neukunden beglichen werden. Bis alles zusammenbricht.

Der Minsky-Moment ist immer dann zu erwarten, wenn Anleger sich zu sicher fühlen. Nach dem alten Sprichwort „Wenn dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis“, lassen sich nicht wenige Investoren in Zeiten des wirtschaftlichen Hochs auf riskante Geschäfte ein, die nicht illegal sind, aber in ihrem Ansatz – der auf Sand gebaut ist – unweigerlich an den in Parma geborenen und in Nordamerika aktiv gewesenen Signore Carlo Pietro Giovanni Guglielmo Tebaldo Ponzi erinnern. Im Vertrauen darauf, dass „schon nichts passieren wird“, leihen sie mehr und mehr Geld und geraten in eine immer größere Abhängigkeit.
Auf der anderen Seite stehen die Banken, die sich gern an solcherlei Kreditunternehmungen beteiligen. Im Ergebnis wird das gesamte Finanzsystem immer instabiler. Der scheinbar nie versiegende Wohlstand wird abgelöst von einer Phase zunehmender Unsicherheit. Der Minsky-Moment droht dabei nicht nur institutionellen Anlegern oder Volkswirtschaften. Auch Kleinsparern kann er teuer zu stehen kommen. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass viele Menschen sich beispielsweise dazu hinreißen lassen, Aktien vor allem in Zeiten hoher Kurse zu kaufen. Die Gier nach Gewinnen lässt alle logischen Bedenken schwinden. Doch ist der oben beschriebene und offenbar unausweichliche Minsky-Moment da, wird Heulen und Zähneklappern sein. Anleger tun daher gut daran, Investments nicht durch die rosarote Brille zu betrachten. Jede Aufwärtsphase, und dauert sie auch noch so lange an, ist einmal zu Ende.

Der Seneca-Effekt

Diese natürliche Gesetzmäßigkeit wird als »Seneca-Effekt« bezeichnet, benannt nach dem römischen Philosophen Lucius Annaeus Seneca (geboren Jahr 1, gestorben 65 n. Chr.). Er war Philosoph und Politiker und einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit. Dieser von ihm beschriebene Effekt beschreibt viele Phänomene, die langsam anwachsen und schnell wieder zurückgehen. Wie sich zeigt, können Zusammenbrüche in unterschiedlichster Gestalt und überall auftreten. Sie haben die verschiedensten Ursachen und entwickeln sich auf unterschiedliche Weise. Jedoch haben allen Zusammenbrüche bestimmte, gleichbleibende Eigenschaften. Es sind stets kollektive Phänomene, das heißt, sie treten nur in sogenannten komplexen Systemen auf. Komplexe Systeme weisen die Eigenschaft auf, das sie durch viele Verknüpfungen miteinander verbunden sind. Ein Zusammenbruch eines komplexen Systems ist die rasche Neuordnung einer großen Zahl solcher Verknüpfungen. Diese Knoten sind in unserem Fall Menschen und deren Interaktionen mit ihrer Umwelt.
All diese Systeme haben vieles gemeinsam. Ein nichtlineares Verhalten. In einem komplexen System besteht keine einfache Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Vielmehr kann ein komplexes System die Folge einer Störung mehrfach vervielfältigen. Umgekehrt kann die Störung auch so gedämpft  werden, dass das System kaum davon berührt wird. Diese Tatsachen führen dazu, dass Prognosen in komplexen Systemen unmöglich sind. Voraussagen von Experten über die zukünftige Entwicklung eines komplexen Systems, wie eben auch das Finanzsystem, sind schlichtweg Fantasterei. Sie sollten darauf keinen Pfifferling geben.

Im Umgang mit dem drohenden Kollaps des Finanz- und Währungssystems sollten wir uns deshalb an den Rat eines der bedeutendsten Stoikern halten:

»Wir müssen die Dinge, die in unserer Macht stehen, möglichst gut einrichten, alles andere aber so nehmen, wie es kommt.« Epiktet

Keine ständigen Markteingriffe

Daraus folgt, dass man die »Seneca-Effekt« abmildern kann, sofern man die Veränderung akzeptiert, statt gegen sie anzugehen. Es bedeutet, dass man niemals versuchen sollte, das System zu etwas zu zwingen, was es nicht tun will, sondern sich auf die Auswirkungen auf das eigene Leben bestmöglich vorzubereiten. Die heutige Politik scheint jeden Versuch aufgegeben zu haben, sich Veränderungen anzupassen. Stattdessen greift sie zu groben, schlagkräftigen Parolen, die eine Rückkehr in die frühere Zeit des Wohlstandes unmöglich machen. Ständige Eingriffe des Staates und seiner Strukturen in den Markt sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ganze Zivilisationen wie beispielsweise das Römische Reich erlebten einen Niedergang und verschwanden, weil sie sich nicht an Veränderungen anpassten, ein Schicksal, das uns ebenfalls blühen könnte, wenn wir nicht lernen, die Veränderungen anzunehmen. Dabei darf man nicht vergessen, dass man zwar ein Problem beheben kann, nicht aber eine Veränderung. Veränderungen kann man sich nur anpassen. Weder sollte der breiten Masse gefolgt werden, noch dürfen die oft zweifelhaften Empfehlungen von Beratern, Politikern, Bankern und Ökonomen ungeprüft ausgeführt werden. Besser ist es, in aller Ruhe eine robuste, langfristige Strategie zu entwickeln.

Der blinde Glaube an unbegrenzten Fortschritt und der damit verbundene materielle Überfluss und Wohlstand war es auch, der die Hoffnung und den Glauben von Generationen seit Beginn des Industriezeitalters aufrechterhielt. Von der menschlichen und tierischen Körperkraft, die durch durch mechanische und später nukleare Energie ersetzt wird, bis zur Ablösung des menschlichen Verstandes durch den Computer bestärkte uns der industrielle Fortschritt in dem Glauben, allmächtig und allwissend zu sein. Im Geiste der meisten Wissenschaftler und Politiker entstand der Irrglaube von unbegrenzter Produktion und damit auch von unbegrenztem Konsum. Doch wird es langsam der Mehrheit der Menschen klar, dass sich diese Verheißung nicht erfüllen kann. Und das liegt neben ökonomischen Widersprüchen an dem vom Menschengeschlecht erschaffenen System selbst. Die Entwicklung dieses Wirtschaftssystems wurde nicht mehr durch die Frage: Was ist gut für den Menschen? bestimmt, sondern durch die Frage: Was ist gut für das Wachstum des Systems? Die Schärfe dieses Konflikts versuchte man durch die These zu verschleiern, dass alles, was dem Wachstum des Systems (oder auch nur eines einzigen Konzerns) diene, auch das Wohl der Menschen fördere. Der Mensch kümmert sich nicht mehr um sein Leben und sein Glück, sondern um seine Verkäuflichkeit.