Der britische Historiker Niall Ferguson sieht die Welt in einer Neuauflage der 1920er-Jahre. Nur dass die Staatsschulden diesmal nicht von Kriegen kommen, sondern vom Sozialstaat. Ein interessantes Interview.

Was war der Hauptfehler, der die Deutschen in die Hyperinflation geführt hat?

Wenn ich Milton Friedman wäre, würde ich sagen: Die Regierung hat unhaltbar große Defizite gemacht, finanziert durch das Gelddrucken der Zentralbank. Und das hat zur Inflation geführt. Aber was ich als Historiker gelernt habe: Dieses Desaster war ein politisches. Man kann nicht nur sagen: „Inflation ist ein monetäres Phänomen.“ Man muss auch erklären, warum Geld gedruckt wird. Und das ist eine politische Sache. In Deutschland haben inflationäre Maßnahmen damals nach einer Möglichkeit ausgesehen, eine Revolution im russischen Stil zu vermeiden. Weil man die Arbeiter weiter bezahlen konnte. Zweitens wollte man so die Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg drücken.

Ist das nicht dasselbe, was wir heute versuchen: Die Schulden wegzuinflationieren?

Es gibt interessante Ähnlichkeiten. Das Problem ist: Es ist schwieriger, als es aussieht, heute Inflation zu kreieren. Viele Leute glauben, die Zentralbanken können Inflation per Knopfdruck erzeugen. Ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Aber ja, wie in den 1920er-Jahren hat Europa heute ein Problem mit exzessiven Staatsschulden. Und wie damals wollen die Wähler in Europa mehr von ihren Regierungen, als sie bereit sind zu zahlen. Deswegen wachsen die Schulden weiter.

Und was waren in der Geschichte die gängigsten Lösungen für dieses Problem?

Meiner Ansicht nach gibt es für ein Land mit exzessiven Staatsschulden drei Möglichkeiten: Es kann den Staatsbankrott erklären. Es kann die Schulden weginflationieren. Oder es kann versuchen, eine Mischung aus Wachstum und Budgetüberschüssen zu erreichen.

Wie werden sich die Länder entscheiden?

Ich glaube, in Südeuropa sind die Chancen auf Staatsbankrotte hoch. Inflation ist nicht wirklich eine Option, die Inflation ist heute niedrig. Du kannst deine Schulden nicht weginflationieren mit einer Inflationsrate von zwei Prozent. Und dann bleibt die Wachstumsroute. Oder gibt es gar eine vierte Möglichkeit? Was, wenn ein Land einfach stehen bleibt? Mit hohen Schulden und null Wachstum. Das wäre das japanische Szenario. Europa könnte etwas Ähnliches erleben, wenn die Politiker die schwierigen Entscheidungen weiter hinausschieben.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Weimarer Republik und heute: Deutschland hatte Schulden nach einem Weltkrieg. Wo kommen unsere Schulden heute her?

Wohlfahrt. Wir sind vom Warfare State in den Welfare State gewechselt. Wenn ein Wohlfahrtsstaat von einer großen Finanzkrise getroffen wird, dann wachsen die Schulden sehr schnell. Europa hat nach dem Krieg Sozialstaaten aufgebaut, die Sicherheit von der Wiege bis ins Grab bieten sollten. Dieses System hat so gut funktioniert, dass es heute nicht mehr leistbar ist. Weil es auf Lebenserwartungen von 60 Jahren ausgerichtet war, nicht auf 80 Jahre. Die Finanzkrise hat die Arbeitslosigkeit steigen lassen und auch die Defizite. Wir finden uns in einer Neuauflage der 1920er wieder – in dem Sinne, dass die Schulden sehr hoch sind auch im Vergleich zum Steueraufkommen. Was heute anders ist als damals: Die Menschen sind nicht durch einen Krieg traumatisiert. Die soziale und politische Lage ist nicht so instabil.

Der Sozialstaat ist also verantwortlich für die Schuldenkrise?

Natürlich. Um es einfach zu sagen: Ein Sozialstaat, der erfolgreich die Lebenserwartung verlängert, bekommt ein Problem, wenn das Pensionsalter nicht angehoben wird. Er zerstört sich selbst. Und kaum ein europäischer Staat hat diese Anpassungen vorgenommen. Der andere Punkt ist: Europa hat etwas sehr Instabiles kreiert. Den Euro, die Währungsunion. Die Mitgliedsländer haben sehr unterschiedliche Versionen desselben Problems – müssen aber mit nur einer Geldpolitik leben.

Deutschland hat in den 1920er-Jahren durch die Inflation vielleicht eine kommunistische Revolution verhindert, aber zehn Jahre später war Hitler an der Macht. Glauben Sie, dass es da eine Verbindung gab?

Ja, es gab diese Verbindung. Das traditionelle Argument ist: Die Hyperinflation hat die Mittelklasse traumatisiert. Das ist vielleicht zu einfach. Die Inflation hat den Glauben vieler Deutscher in die Demokratie und den Rechtsstaat untergraben. Weil Schulden mit wertlosem Geld zurückgezahlt werden konnten – legal. Die Inflation hat auch das politische System zerstört und die deutsche Wirtschaft war sehr verwundbar. Die Zinsen waren hoch, wegen des Risikos für Inflation, das nach 1923 immer eingerechnet wurde.

So wie die Märkte heute einen Aufschlag von Griechenland oder Italien verlangen, um das Risiko eines Euroaustritts und folgender Inflation abzufedern?

Ja, das ist die Ironie der Geschichte. In den 20er- und 30er-Jahren war Deutschland der „Bad Boy“, das Land der Bankrotte, wo politische Extremisten aufstiegen. Heute hat Griechenland diese Rolle. Und es ist es schlimm zu beobachten, dass viele Deutsche vergessen haben, dass solche Dinge erst kürzlich in Deutschland selbst passiert sind. Die Depression ist heute aber nicht so schlimm wie in den 30ern. Und eine alternde Gesellschaft entscheidet sich eher nicht für Extremisten. Hitler kam auch nur indirekt durch die Inflation an die Macht. Die direkten Gründe waren Depression und hohe Arbeitslosigkeit.

Muss Deutschland für Griechenland zahlen? Wird die Währungsunion sonst zerfallen?

Ein Aufbrechen der Währungsunion wäre sehr schwer. Sie sollte ja unumkehrbar sein. Die Kosten eines Austritts von auch nur einem Land sind ziemlich hoch. Ich glaube, das wahrscheinlichste Szenario ist, dass wir Schritt für Schritt in Richtung einer Vergemeinschaftung der Schulden gehen. Mit anderen Worten: Fiskalföderalismus in der Eurozone. Aber das wird sehr schwierig – wegen der Innenpolitik in den Ländern. Ich glaube, uns stehen schmerzhafte, langsame und technisch komplizierte Verhandlungen bevor, die mindestens ein Jahr dauern werden. Darüber, wie wir mit Banken und Staatsschulden umgehen. Das sind keine lustigen Themen, aber sie werden die europäische Politik dominieren.

Sie sorgen sich nicht um Inflation. Aber drucken nicht die Zentralbanken dieser Welt seit 2008 Geld wie nie zuvor?

Da muss man mit der Wortwahl vorsichtig sein. Wenn man „Gelddrucken“ sagt, erzeugt das das Bild eines Mannes mit einer Notenpresse, die Unmengen Banknoten erzeugt. Das ist in den 1920ern in Deutschland auch geschehen. Aber in dieser Welt leben wir nicht mehr. Die Zentralbanken weiten heute ihre Bilanzen aus und damit die Geldbasis – indem sie verschiedene Assets und vor allem staatliche Bonds kaufen. Dieses sogenannte Quantitative Easing wurde gemacht, um eine Depression zu vermeiden. Hätten sie das nicht gemacht, hätten wir Bankpleiten gesehen und einen Dominoeffekt wie in den 1930ern. Die Gefahr war: Deflation und Depression.

Aber ist das nicht immer noch die Gefahr?

Ja, die ist nicht völlig verschwunden. Aber sie wurde sicherlich reduziert. Inflation hingegen wäre nur eine Gefahr, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Die Geldmenge muss viel stärker steigen, als sie es derzeit tut. Banken müssten dafür ihre Aktivitäten wieder ausweiten. Gleichzeitig müsste auf der Angebotsseite derzeit nicht genutzte Arbeitskraft erst wieder genutzt werden. Inflation kann eine katastrophale Sache sein. Aber unter den aktuellen Umständen ist Inflation fast unmöglich. Heute sind Arbeitslosigkeit, Bankpleiten und fallender Output das Risiko. Es ist falsch, was viele in der deutschsprachigen Welt glauben. Was die Notenbankchefs Mario Draghi und Ben Bernanke gemacht haben, ist nicht inflationär. Sie würden sagen, dass sie das Quantitative Easing leicht zurücknehmen können.

Können sie das?

Ich glaube, sie können ihre Bilanz wieder verkleinern und Assets verkaufen, das ist technisch eine relativ simple Angelegenheit. Aber ich glaube nicht, dass sie das schmerzfrei machen können. Wenn man den monetären Stimulus abdreht, wird das wehtun. Die Wirtschaft ist inzwischen abhängig von unglaublich lockerer Geldpolitik. Das wird ein Schock.

Wenn es keinen Schock gäbe, würde das ja bedeuten, dass wir mit der lockeren Geldpolitik eine Lösung für alle Probleme der Menschheit gefunden haben.

Und das haben wir natürlich nicht! Überraschung: Es gibt kein Wundermittel. Ben Bernanke hat 2004 sinngemäß behauptet: „Wir haben das Problem gelöst, wir sind so brillant, wir können Wachstum ohne Inflation generieren!“ Da hat er das Schicksal herausgefordert. Die Weltwirtschaft und sogar die österreichische Wirtschaft sind als System viel zu kompliziert, als dass es irgendwelche magischen Regeln gäbe, die Volatilität und Wirtschaftszyklen verhindern könnten. Und wie Joseph Schumpeter schon vor langer Zeit geschrieben hat: Diese Dinge sind auch wichtig, damit schlechte Ideen und schlechte Firmen eliminiert werden und Platz für Neues machen. Das ist Kapitalismus.

Trotzdem haben wir die Banken gerettet.

Ja, und da bin ich auch sehr kritisch. Wir haben es erlaubt, dass Banken zu groß wurden, und jetzt haben wir das Risiko im Finanzsystem de facto sozialisiert. Das ist eine sehr ungesunde Sache. Das hat das Problem nur vergrößert. Jeder, der glaubt, wir haben das Problem mit Quantitative Easing gelöst, versteht das Dilemma nicht. QE ist ein Pflaster für ein ungesundes Finanzsystem. Wir sind weit davon entfernt, eine Antwort auf die Frage zu finden: Wie kann man das Finanzsystem unabhängiger von staatlichen Garantien machen?

Sie sprechen von der Rolle der staatlichen Zentralbanken als Lender of Last Resort. Aber Zentralbanken gibt es ja noch nicht sonderlich lang.

Die ersten Zentralbanken gab es im 17. Jahrhundert. Die USA hatten bis zum Ersten Weltkrieg keine Zentralbank. Das sind also relativ neue Institutionen.

Institutionen, die möglicherweise mehr zum Problem beitragen als zur Lösung?

Das ist eine Vereinfachung. Zentralbanken erfüllen wichtige Funktionen. Als die Staaten es ohne versucht haben, war das System sehr krisenanfällig.

Aber ist die willkürliche Festsetzung der Leitzinsen durch die Zentralbanken nicht eine Preismanipulation, wie es sie in einer Marktwirtschaft nicht geben sollte?

Absolut ja. Aber die Lehre, die Milton Friedman aus der großen Krise der 30er gezogen hat, war: Es ist besser, es so zu machen, als die Hälfte der Banken pleitegehen zu lassen. In einer Krise muss man Notfallmaßnahmen ergreifen. Wir hätten die Banken pleitegehen lassen können. Nach Lehman Brothers Morgan Stanley, nach Morgan Citigroup, nach Citi Goldman Sachs. Das wäre nicht schön gewesen. Das hätte die ganze Weltwirtschaft crashen lassen. Ob sie nun Keynesianer oder Hayekianer sind, sie müssen wohl zugeben: Die Zentralbanken haben das Richtige getan. Und das Risiko ist weiterhin nicht die Inflation, sondern eine Neuauflage der Bankenkrise.

Aber gehen Sie auf die Straße und fragen Sie die Menschen. Sie werden Ihnen erzählen, dass alle wichtigen Preise steigen: für Energie, für Nahrung…

Ja, aber die Inflationsrate beinhaltet die Kosten für Fernseher genauso wie für Brot. Und die Kosten für Fernseher und Computer sind stark gefallen. Inflation beinhaltet nicht nur die Rohstoffpreise, sondern auch die für Arbeit. Fragen Sie dieselben Menschen, ob ihre Gehälter gestiegen sind. „Nicht genug – es ist eine Schande“, werden sie sagen. In den 1970ern habe ich hohe Inflation gesehen. Und was war der Grund? Hochregulierte Arbeitsmärkte, in denen die Gewerkschaften die Gehälter in die Höhe treiben konnten. Dieses Problem haben wir gelöst.

Haben Sie eine Antwort auf die Frage, was Geld eigentlich ist?

Geld ist ein Zahlungsmittel, eine Recheneinheit und ein Wertspeicher. So steht es in jedem ordentlichen Ökonomiebuch.

Aber was ist Ihre Definition?

Die ist ein bisschen anders: Geld ist eine Beziehung zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger. Wir dokumentieren diese Beziehung. Dafür könnten wir alles nutzen, in der Geschichte waren es meistens Münzen. Sobald das Tauschmittel universell akzeptiert wird, ist es Geld. Heute verwenden wir vor allem unsichtbares elektronisches Geld und Kreditkarten.

Und warum greifen viele Menschen dann immer noch zu Gold?

Die Hauptaufgabe, die Gold heute übernimmt, ist, einen Teil der Vermögen der Menschen zu speichern. Es ist interessant, dass Gold dieses Revival erlebt hat und wir diesen beeindruckenden Bullenmarkt sehen, weil Gold keine Zinsen zahlt. Aber in einer Welt, in der Banken nicht mehr als vertrauenswürdig betrachtet werden, ist es nicht überraschend, dass der originale und historische Wertspeicher ein Comeback feiert. Gold funktioniert auch viel besser als Wertspeicher als als Tauschmittel.

Dieses Interview ist erschienen auf www.diepresse.com